Finnland, wie man es heute kennt, ist eine relativ junge Nation. Erst im Jahre 1917 erlangte es seine Unabhängigkeit, ein Ereignis, das die Finnen sehr stolz macht. So stand das gesamte Jahr 2017 im Zeichen der 100-jährigen Unabhängigkeitsfeier.
Geschichte und Gesellschaft Finnlands bis 1900
Im Jahre 1323 wurde ein Großteil Finnlands an Schweden angeschlossen und blieb ein Teil Schwedens, bis es nach dem schwedisch-russischen Krieg an Russland abgetreten werden musste. Als Großfürstentum von Russland war Finnland nun deutlich autonomer als es unter schwedischer Herrschaft gewesen war. Es gab auch eine weitere größere Änderung: Turku, oder Schwedisch Åbo, war unter schwedischer Herrschaft die Hauptstadt Finnlands gewesen. 1812 löste Helsinki Turku als Hauptstadt ab.
Aus dieser Zeit sind erste nationale Bestrebungen dokumentiert, die heute unter der kulturpolitischen Bewegung „Turku Romanticism“ zusammengefasst werden. Mit Schweden hatten sich die Finnen auf Grund der Sprache und auch durch kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden gefühlt. Unter der russischen Herrschaft waren die Men-schen weniger zufrieden: Sie wollten nicht russisch sein. Dass sie sich aber auch nicht schwedisch fühlten, geht aus folgendem Zitat hervor: „We are not Swedish, we will not become Russian, let us therefore be Finnish.“ (Korhonen, „Inventing Finnish Music“, S.31)
Um sich wirklich finnisch zu fühlen, brauchten die Finnen eine eigene Identität. Durch die lange Zugehörigkeit zu Schweden hatten sie vieles von Schweden übernommen, nicht zuletzt die Sprache. Finnisch sprach vor allem die ärmere Landbevölkerung, die größtenteils weder lesen noch schreiben konnte, weshalb es Anfang des 19. Jahrhunderts auch noch keine richtige finnische Schriftsprache gab. Das änderte sich dann aber schnell und mit der Sprache begann die Identitätsfindung der Finnen.
Der erste Meilenstein in der Identitätsfindung in Zusammenhang mit der finnischen Sprache gelang Elias Lönnrot. Er sammelte Volksdichtungen, sortierte diese nach Figuren und veröffentlichte diese Sammlung anschließend im Jahre 1835 unter dem Namen Kalevala. Das Kalevala wurde schnell zum Nationalepos der Finnen, es „hob das Ansehen des finnischen Volkes in den Augen der Gebildeten, bewies es doch, dass der heidnische Urfinne in der Lage war, eine den klassischen Vorbildern gerechte Kultur zu erschaffen.“ (Halmesvirta, „Land unter dem Nordlicht“, S.115) Bis sich Finnisch allerdings wirklich als Schriftsprache durchsetzte, dauerte es bis in die 1850er Jahre.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurden auch die ersten finnischsprachigen Schulen gegründet; sie verbreiteten sich schnell und ab 1889 waren sie den schwedischsprachigen gleichberechtigt. Trotzdem war Schwedisch noch immer die Sprache der Oberschicht und so kam es Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Streit um die Landessprache. Der russische Zar unterschrieb im Juni 1900 ein Dekret, das Finnisch zur offiziellen Sprache Finnlands erklärte. Heute hat Finnland zwei offizielle Landessprachen: Finnisch und Schwedisch.
Die Entwicklung des Musiklebens in Finnland
Das Musikleben in Finnland entwickelte sich im Vergleich zu dem Musikleben in Mitteleuropa erst relativ spät. Verantwortlich hierfür waren verschiedene Faktoren: Zum einen war das Land lange Zeit nicht eigenständig – es gehörte zunächst zu Schweden, dann zu Russland. Viel entscheidender war aber, dass das Land dünn besiedelt war und selbst die großen Städte für europäische Verhältnissen eher klein waren. Dazu kam die Lage am Rande Europas: Zu Zeiten, zu denen es noch nicht die Reisemöglichkeiten von heute gab, waren die Kulturzentren Europas für die Finnen nur schwer zu erreichen. Finnland war also recht lange von der europäischen Kultur relativ isoliert, aber es entwickelte nach und nach dennoch ein eigenes kulturelles Leben.
Auch wenn diese erst sehr spät notiert wurden, gibt es in Finnland eine recht lange Tradition von Volksmusik in der Form von Volksliedern, die mündlich übertragen wurden. Eine besondere Rolle spielen dabei die sogenannten Runen-Lieder, die häufig mit Begleitung einer Kantele vorgetragen werden. Diese Runen-Lieder bildeten auch die Grundlage für das Kalevala-Epos.
Die europäische Kunstmusik fand hingegen erst Ende des 18. Jahrhunderts ihren Weg nach Finnland. Vor allem die Kirchenmusik verbreitete sich recht schnell, wobei die angesehene Organistenschule in Turku eine wesentliche Rolle spielte.
Turku war als Hauptstadt lange Zeit auch Kulturzentrum Finnlands. Bereits unter schwedischer Herrschaft waren in dem Land einige Chorschulen ins Leben gerufen worden, die wichtigste befand sich eben dort, in Turku. Im Zusammenhang mit der „Turku Romanticism“-Bewegung wurden immer mehr Studenten-Chorgemeinschaften gegründet.
Im späten 18. Jahrhundert organisierte die Stadt Turku die Turun Soitannollinen Seura (Turku Musikgesellschaft), ein Orchester, das 1790 sein erstes Konzert gab. Dieses Orchester bestand aus Amateurmusikern, die von bezahlten Profis unterstützt wurden. Nach dem großen Stadtbrand in Turku 1827, bei dem die Stadt fast vollständig zerstört wurde, verlagerte sich das Kulturleben in Finnlands neue Hauptstadt Helsinki; vor allem der Umzug der Universität (1828) trug dazu bei.
Da die musikalischen Ausbildungsmöglichkeiten in Finnland begrenzt waren, dominierten lange Zeit Musiker, die ursprünglich nicht aus Finnland stammten, das finnische Musikleben. Zu dieser Gruppe gehört auch Fredrik Pacius (1809–1891): Pacius kam 1834 von Deutschland nach Finnland und brachte sich sofort aktiv in das finnische Musikleben ein. Seine Aktivitäten weckten unter den Finnen immer mehr Interesse an der europäischen Kunstmusik. Seine Bemühungen als Organisator des Musiklebens, als Lehrer sowie seine patriotischen Kompositionen, nicht zuletzt die finnische Nationalhymne Maamme, brachten ihm den Titel „Vater der finnischen Musik“ ein.
Fredrik Pacius markiert den Anfang zunehmender musikalischer Aktivität in Finnland, aber er war nicht der einzige: Vesa Kurkela spricht von vier „Musikpäpsten“: Fredrik Pacius, Richard Faltin, Robert Kajanus und Martin Wegelius. Richard Faltin (1835-1918) stammte wie Pacius aus Deutschland und leistete vor allem als Lehrer für Musik seinen Beitrag. Martin Wegelius und Robert Kajanus waren diejenigen, die im Jahr 1882 den Beginn einer „neuen Ära“ im Musikleben Finnlands einläuteten: Robert Kajanus gründete in diesem Jahr ein Sinfonieorchester in Helsinki, damals unter dem Namen „Helsinki Orchestral Society“, das heute noch als Philharmonisches Orchester Helsinki aktiv ist. Es ist das älteste ständige Berufsorchester in Nordeuropa. Der Anfang war nicht ganz einfach, denn es gab, auf Grund der oben erwähnten mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten in Finnland, nur wenige finnische Musiker und auch die Finanzierung stellte eine Herausforderung dar. Kajanus fand jedoch Sponsoren und professionelle Musiker aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, die nach Finn-land kamen um in dem Orchester mitzuspielen. Um sein Orchester zu etablieren, veranstaltete Kajanus regelmäßige Sinfoniekonzerte, woraus sich die Tradition der Freitagabendkonzerte ergab, die noch heute ein fester Bestandteil von Helsinkis „kulturellem Kalender“ sind. 1885, drei Jahre nach der Gründung des Orchesters, gründete Kajanus außerdem noch eine Orchesterschule, um sich Nachwuchs für das Orchester zu sichern. Tatsächlich etablierte sich das Orchester recht schnell. Schon bald erhielt es auch finanzielle Unterstützung durch die Stadt Helsinki und den Staat35. Als Gustav Mahler im Herbst 1907 Helsinki besuchte und mit dem Orchester arbeitete, zeigte er sich von der Qualität des Orchesters beeindruckt und schrieb an seine Frau: „The orchestra is amazingly good and well trained, which speaks well for the Director of Music here – Kajanus, who has of course a great reputation in the musical world.“ (Korhonen, „Inventin Finnish Music“, S.33)
Martin Wegelius gründete in dem Jahr, in dem Kajanus sein Orchester gründete, das Helsinki Music Institute, das seit 1939 den Namen Sibelius-Akademie trägt und zu den führenden Musikhochschulen Europas gehört. Auch für ihn war der Start nicht ganz einfach; es existierten noch keine Lehrbücher in finnischer oder schwedischer Sprache und auch an geeigneten Lehrern mangelte es in Finnland. Wegelius reiste also durch Europa und stellte Lehrer aus dem Ausland ein. Der bekannteste von ihnen war Ferruccio Busoni. Die fehlenden Lehrbücher schrieb Wegelius selbst. Die Lehrwerke wurden später überarbeitet und modernisiert, werden aber teilweise noch heute für die Musikausbildung in Finnland genutzt. Am Musikinstitut gab es zu Beginn die Fächer Klavier, Gesang und Tonsatz. Kajanus‘ Orchesterschule wäre eine gute Ergänzung gewesen, allerdings herrschte zunächst eine Art Machtkampf zwischen Wegelius und Kajanus, was eine Zusammenarbeit unmöglich machte. Wegelius hatte davon geträumt an der Spitze des finnischen Musiklebens zu stehen, aber der jüngere Kajanus machte ihm mit der Gründung seines Orchesters einen Strich durch die Rechnung. Auch waren die beiden unterschiedlicher Ansicht, was die musikalische Ausbildung betraf: „Wegelius war der Ansicht, dass ein musikalisches Verständnis auf Gelehrtheit und Bildung basieren müsse […] Kajanus dagegen war ein praktischer Musiker […]“ (Huttunen, „Der Nationalheld Jean Sibelius“, S.137f) Erst Jahre später, 1914, wurden die Orchesterschule und das Musikinstitut zusammengeschlossen.
Mit der Gründung des Orchesters und des Musikinstituts begann eine rasante Entwicklung im finnischen Musikleben. Viele junge angehende Komponisten begannen ihre Ausbildung am Musikinstitut, unter ihnen auch Sibelius. Zur Weiterbildung gingen aber viele von ihnen nach Deutschland, vor allem nach Leipzig. Kimmo Korhonen schreibt sogar von einer „Leipziger Schule“ unter den finnischen Komponisten. Doch die Komponisten kehrten größtenteils zurück und wirkten anschließend in Finnland. Auch die Orchesterlandschaft vergrößerte sich schnell: Bis 1909 hatten auch die Städte Turku, Viipuri, Mikkeli, Kotka, Kuopio, Oulu und Lahti bald ein festes Orchester.